Vorratsdatenspeicherung: Unterschied zwischen den Versionen

→‎Die Rechtslage ab 2015: Inhalte von Speicherpflicht und Höchstspeicherfrist, Kritik an Richtervorbehalt u. Auskunftspraxis
(Inhaltliche Komplettüberarbeitung, inkl. Urteil des EuGH, Ungültigkeit EU-RL, Rechtslage 2015, Einzelnachweise, Weblinks)
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Der Bundestag beschloss am 16. Oktober 2015 mit dem "Gesetz zur Einführung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten" [http://dip.bundestag.de/btd/18/063/1806391.pdf] (PDF) die Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung [http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2015/kw42_de_vorratsdatenspeicherung/391654]. Der von der Regierungskoalition eingebrachte Gesetzentwurf wurde in einer vom Rechtsausschuss geänderten Fassung verabschiedet. Die zugehörigen Dokumente können im Dokumentations- und Informationssystem für Parlamentarische Vorgänge unter den [http://dipbt.bundestag.de/extrakt/ba/WP18/672/67296.html Basisinformationen über den Vorgang ID 18-67296] eingesehen werden.
Der Bundestag beschloss am 16. Oktober 2015 mit dem "Gesetz zur Einführung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten" [http://dip.bundestag.de/btd/18/063/1806391.pdf] (PDF) die Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung [http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2015/kw42_de_vorratsdatenspeicherung/391654]. Der von der Regierungskoalition eingebrachte Gesetzentwurf wurde in einer vom Rechtsausschuss geänderten Fassung verabschiedet. Die zugehörigen Dokumente können im Dokumentations- und Informationssystem für Parlamentarische Vorgänge unter den [http://dipbt.bundestag.de/extrakt/ba/WP18/672/67296.html Basisinformationen über den Vorgang ID 18-67296] eingesehen werden.
==== Inhalte von Speicherpflicht und Höchstspeicherfrist ====
Die neuen Regelungen enthalten
* die Aufnahme der §§ 113a bis 113g in das Telekommunikationsgesetz (TKG) für die anlasslose Speicherung von Daten bei TK-Dienstleistern sowie die Befugnis für eine Übermittlung der Daten durch den Dienstleister an die Behörden,
* die Verwendung der Daten durch die Strafverfolgungsbehörden in den neuen §§ 100g, 101a und 101b der Strafprozessordnung (StPO) sowie die Befugnis der Behörden, die von dem Dienstleister übermittelten Daten zu erheben,
* den neuen Straftatbestand der Datenhehlerei durch die Schaffung des § 202d StGB.
Vorgesehen ist '''keine Speicherung''' der
* Inhalte der Kommunikation,
* Daten über aufgerufene Internetseiten und Daten von Diensten der elektronischen Post,
* Daten über Verbindungen gem. {{p|juris|tkg|99|§ 99 Abs.2 TKG}}.
Die neuen Regelungen umfassen
* '''Die Speicherung sämtlicher [[Verkehrsdaten]]''', die bei der Telekommunikation anfallen (vgl. auch {{p|juris|tkg|96|§ 96 TKG}}, {{p|juris|tkg|97|§ 97 TKG}}, {{p|juris|tkg|98|§ 98 TKG}}) im Inland:
** die Rufnummer oder Kennung des anrufenden und des angerufenen Anschlusses, bei Um- oder Weiterschaltungen jedes weiteren beteiligten Anschlusses,
** Datum und Uhrzeit von Beginn und Ende der Verbindung,
** Angaben zum genutzten Dienst
** im Fall mobiler Telefondienste ferner
*** die internationale Kennung mobiler Teilnehmer für den anrufenden und angerufenen Anschluss,
*** die internationale Kennung des anrufenden und angerufenen Endgerätes,
*** Datum und Uhrzeit der ersten Aktivierung des Dienstes, wenn Dienste im Voraus bezahlt wurden,
*** die Bezeichnungen der Funkzellen
** im Fall von Internet-Telefondiensten
*** die IP des anrufenden und des angerufenen Anschlusses und zugewiesene Benutzerkennungen
** die Zeitpunkte der Versendung und des Empfangs der Nachricht bei der Übermittlung einer Kurz-, Multimedia- oder ähnlichen Nachricht
** Daten für unbeantwortete oder erfolglose Anrufe gem. § 96 Abs.1 Satz 2 TKG
** die dem Teilnehmer für eine Internetnutzung zugewiesene IP
** die eindeutige Kennung des Anschlusses, über den die Internetnutzung erfolgt, sowie die zugewiesene Benutzerkennung
** Datum und Uhrzeit von Beginn und Ende der Internetnutzung unter der zugewiesenen IP
** bei öffentlich zugänglichen Internetzugangsdiensten und deren mobiler Nutzung
*** die Bezeichnung der bei Beginn der Internetverbindung genutzten Funkzelle
*** die Daten zur geografischen Lage und Hauptstrahlrichtungen der versorgenden Funkantennen
* '''Eine Speicherfrist''' für
** Standortdaten: vier Wochen (Bezeichnungen der Funkzellen, geografische Lage und Hauptstrahlrichtungen der versorgenden Funkantennen)
** alle übrigen Daten: zehn Wochen
* '''Einen Abruf der Daten'''
** zur Gefahrenabwehr durch Polizeibehörden, wenn tatsächliche Anhaltspunkte für bestimmte konkrete schwerste Gefahren vorliegen,
** zu Strafverfolgungszwecken durch die Strafverfolgungsbehörden:
*** mit einem '''Richtervorbehalt im Strafverfahren''' nur für Abfragen nach {{p|juris|stpo|100g|§ 100g StPO}} (nicht für sonstige polizeiliche Abfragen oder geheimdienstliche Auskunftsverlangen)
*** eine Eilkompetenz der Staatsanwaltschaft besteht nicht
*** gem. Straftatenkatalog (Bekämpfung des Terrorismus oder dem Schutz höchstpersönlicher Rechtsgüter, insbesondere Leib, Leben; Freiheit und sexuelle Selbstbestimmung; besonders schwere Straftaten, bei denen die gespeicherten Verkehrsdaten nach kriminalistischer Erfahrung besonders wertvolle Dienste leisten können)
* '''Die Benachrichtigung [[Betroffener]] vom Abruf der Daten''' ist gem. § 100g StPO vorgesehen. Die Benachrichtigung unterbleibt
** wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, dass eine Straftat von erheblicher Bedeutung oder eine Straftat mittels Telekommunikation begangen wurde,
** soweit dies für die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsortes des Beschuldigten erforderlich ist.
** Das Unterbleiben der Benachrichtigung nach {{p|juris|stpo|101|§ 101 Abs. 4 Satz 3 StPO}} und die Zurückstellung der Benachrichtigung nach § 101 Abs. 5 StPO bedarf einer Anordnung des zuständigen Gerichts
* '''Den Schutz der gespeicherten Daten beim Dienstleister''' vor unbefugter Kenntnisnahme und Verwendung durch [[technische und organisatorische Maßnahmen]] nach dem Stand der Technik. Verstöße dagegen werden als Ordnungswidrigkeit eingestuft und mit Bußgeldern geahndet.
* '''Eine angemessene Entschädigung''' der Dienstleister für notwendige Aufwendungen bei der Umsetzung der Vorgaben Speicherpflichten, Verwendung und Gewährleistung der Sicherheit der Daten wird bei unverhältnismäßiger Kosten zugestanden.
* '''Eine [[löschen|Löschung]] der Daten''' nach Ablauf der Höchstspeicherfrist. Bei Verletzung der Löschpflicht droht ein Ordnungsgeld.
* '''Der Datenhehlerei soll sich strafbar machen'''
** wer sich oder einem anderen nicht öffentlich zugängliche Daten, die ein anderer durch eine rechtswidrige Tat erlangt hat, verschafft,
** wer diese Daten einem anderen überlässt,
** wer diese Daten verbreitet oder in sonstiger Weise zugänglich macht, um sich oder einen Dritten zu bereichern oder einen anderen zu schädigen.
Diese [http://www.rainer-gerling.de/PDF/Synopse_Vorratsdatemspeicherung_2015_v01.pdf Synopse der Vorratsdatenspeicherung] (Stand 20.5.2015, PDF) beruht auf dem Referentenentwurf des BMJV. Das durch den Bundestag verabschiedete Gesetz enthält demgegenüber folgende Änderungen:
* Telekommunikationsdienste "für Endnutzer"
* Der neue Artikel 7 beinhaltet die "Evaluierung"
** der geänderten Vorschriften der Strafprozessordnung und des Telekommunikationsgesetzes von der Bundesregierung.
** Der Evaluationszeitraum beträgt 36 Monate.
** Die Evaluierung erfolgt unter Auswertung der Übersicht gemäß § 101b der Strafprozessordnung:
:: 1. die Auswirkung dieses Gesetzes auf die Strafverfolgung und die Gefahrenabwehr,
:: 2. die durch dieses Gesetz für die Wirtschaft und die Verwaltung verursachten Kosten sowie
:: 3. die Einhaltung der datenschutzrechtlichen Regelungen.
:: und benennt den möglichen Handlungsbedarf für eine wirksamere Strafverfolgung und Gefahrenabwehr.
* Artikel 8 ist der vorherige Artikel 7


====Stellungnahmen der Sachverständigen====
====Stellungnahmen der Sachverständigen====
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* Für die Digitale Gesellschaft e.V. ist und bleibt die Vorratsdatenspeicherung grundrechtswidrig und eine "''eine anlasslose Bevorratung besonders sensibler personenbezogener Daten''". Sie sieht die Pläne zur Vorratsdatenspeicherung ''als bloßen Versuch, ein grundrechtswidriges Vorhaben mit rechtsstaatlicher Tünche zu versehen.'' Dieser Eindruck bestärke sich dadurch, dass die Zugriffsmöglichkeiten für Geheimdienste nicht geregelt werden. [https://digitalegesellschaft.de/2015/04/vds-rechtsstaatskosmetik/]
* Für die Digitale Gesellschaft e.V. ist und bleibt die Vorratsdatenspeicherung grundrechtswidrig und eine "''eine anlasslose Bevorratung besonders sensibler personenbezogener Daten''". Sie sieht die Pläne zur Vorratsdatenspeicherung ''als bloßen Versuch, ein grundrechtswidriges Vorhaben mit rechtsstaatlicher Tünche zu versehen.'' Dieser Eindruck bestärke sich dadurch, dass die Zugriffsmöglichkeiten für Geheimdienste nicht geregelt werden. [https://digitalegesellschaft.de/2015/04/vds-rechtsstaatskosmetik/]


* "''Der vzbv spricht sich grundsätzlich gegen eine Vorratsdatenspeicherung aus. Die Regelung stellt einen gewaltigen Eingriff in die Freiheits- und Persönlichkeitsrechte dar.''" [http://www.vzbv.de/meldung/vzbv-fordert-abschied-von-der-vorratsdatenspeicherung]  
* "''Der vzbv spricht sich grundsätzlich gegen eine Vorratsdatenspeicherung aus. Die Regelung stellt einen gewaltigen Eingriff in die Freiheits- und Persönlichkeitsrechte dar.''" [http://www.vzbv.de/meldung/vzbv-fordert-abschied-von-der-vorratsdatenspeicherung]  
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'''Ausführliche Informationen über aktuelle Ereignisse und weitere Stellungnahmen''' können im [https://digitalcourage.de/blog/2015/vorratsdatenspeicherung-zivilgesellschaft-sagt-nein Blog von Digitalcourage e.V.], im [http://www.cr-online.de/24813.htm Portal zum IT-Recht] sowie in den [http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/77/85/lang,de/ Materialien des AK Vorrat] nachgelesen werden.
'''Ausführliche Informationen über aktuelle Ereignisse und weitere Stellungnahmen''' können im [https://digitalcourage.de/blog/2015/vorratsdatenspeicherung-zivilgesellschaft-sagt-nein Blog von Digitalcourage e.V.], im [http://www.cr-online.de/24813.htm Portal zum IT-Recht] sowie in den [http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/77/85/lang,de/ Materialien des AK Vorrat] nachgelesen werden.
'''Scharfe Kritik am Richtervorbehalt und der Auskunftspraxis''' übt indes der E-Mail-Provider Posteo. Im [https://posteo.de/site/transparenzbericht_2014 Transparenzbericht 2014] stellt der Dienstleister gravierende Sicherheitsprobleme und Mängel, wie regelmäßige Rechtsbrüche und Kontrolldefizite, in der Praxis der Bestandsdatenauskünfte nach § 113 TKG fest. Die Wirksamkeit eines Kontrollinstrumentes wie den Richtervorbehalt wird derart eingeschätzt: "''In der Praxis werden offenbar alle Anträge auf Überwachungsmaßnahmen bewilligt.''" Die Ursache sieht der Dienstleister in der nicht ausreichenden Evaluierung der Wirksamkeit durch den Gesetzgeber (z.B. durch Statistiken über erfolgreiche und abgelehnte Ersuchen) und im Zeit- und Personalmangel in den Gerichten.


====Verfassungsbeschwerde====
====Verfassungsbeschwerde====
Digitalcourage e.V. bereitet derzeit eine [https://digitalcourage.de/faq-zur-verfassungsbeschwerde-gegen-die-vorratsdatenspeicherung '''Verfassungsbeschwerde gegen die Vorratsdatenspeicherung'''] beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe vor, der durch eine Mitzeichnung Gewicht verliehen werden kann.
Digitalcourage e.V. bereitet derzeit eine [https://digitalcourage.de/faq-zur-verfassungsbeschwerde-gegen-die-vorratsdatenspeicherung '''Verfassungsbeschwerde gegen die Vorratsdatenspeicherung'''] beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe vor, der durch eine Mitzeichnung Gewicht verliehen werden kann.


===Rechtliche Bewertungen===
===Rechtliche Bewertungen===
Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages fertigte zwei Rechtsgutachten zum Gesetzentwurf an. Die Ausarbeitung zu europarechtlichen Spielräumen sieht im Ergebnis in der Entscheidung des EuGH weder den Ausschluss einer anlasslosen Vorratsdatenspeicherung noch vermag das Fazit gegenteiliges zu entdecken. Die Grenzen einer grundrechtskonformen Vorratsdatenspeicherung ließen sich den Urteilsgründen nicht trennscharf entnehmen und es könne nicht abschließend festgestellt werden, ob der Gesetzentwurf den Anforderungen des Gerichtshofs zur Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (Art.7, 8 und 52 EU-Charta) entspräche [https://pound.netzpolitik.org/wp-upload/WissDienst_VDS_EU.pdf] (PDF).
Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages fertigte zwei Rechtsgutachten zum Gesetzentwurf an. Die Ausarbeitung zu europarechtlichen Spielräumen sieht im Ergebnis in der Entscheidung des EuGH weder den Ausschluss einer anlasslosen Vorratsdatenspeicherung noch vermag das Fazit gegenteiliges zu entdecken. Die Grenzen einer grundrechtskonformen Vorratsdatenspeicherung ließen sich den Urteilsgründen nicht trennscharf entnehmen und es könne nicht abschließend festgestellt werden, ob der Gesetzentwurf den Anforderungen des Gerichtshofs zur Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (Art.7, 8 und 52 EU-Charta) entspräche [https://pound.netzpolitik.org/wp-upload/WissDienst_VDS_EU.pdf] (PDF).


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